Greifswalder Wingolf
Die Geschichte des Greifswalder Wingolf
In der Geschichte der Wingolfsverbindungen wird Greifswald im Jahre 1880 als eine Kleinstadt mit ziemlich vernachlässigter Universität beschrieben, in der die Studentenschaft ein raues Leben führte. Zu dieser Zeit gab es fast in jedem Semester Berichte von im Duell gefallenen Studenten.
Die Gründung des Greifswalder Wingolf ist auf den stud. theol. Eduard Balcke zurückzuführen. Eduard Balcke hatte in Erlangen studiert und war dort nach vierzehntägiger Aktivenzeit aus dem Erlanger Wingolf aus prinzipiellen Gründen ausgetreten. Im Rahmen seinen Studiums hatte er mit den Professoren und Philistern Dr. Dr. Otto Zöckler und Dr. Eduard Vilmar kontakt, die selbst erst seit kurzer Zeit in Greifswald lehrten. Diese Lage in Greifswald und das Fehlen einer christlichen Verbindung führte zu der Überlegung, einen Wingolf in Greifswald zu gründen. Eduard Balcke konnte mit dieser Idee schnell unter seinen Kommilitonen gleichgesinnte finden.
Die Gründungsversammlung fand am 10. Juli 1867 statt.
Gründungsmitglieder 1867
Anwesend waren:
1. Balcke, Eduard, th. (Vorsitzender), 2. Hagemann, Karl, ph., 3. Witte, Richard, th., 4. Bauer, Wilhelm, th. 5. Mascow, Otto, math., 6. Rohde, Ferdinand, th., 7. Reichard, Johannes, th., 8. Striemer, Gustav, th.
Die Hochschule erkannte durch die Führsprache von Philister Zöckler die Verbindung am 13. Juli 1867 an, die Aufnahme in den Wingolfsbund geschah erst am 27. Januar 1868, da es einige Streitigkeiten mit dem Wingolfsbund gab.
Der Greifswalder Wingolf zählte in den ersten 15 Jahren durchschnittlich immer nur 10 Mitglieder. Mit dem Krieg 1870/71 mit 10 Greifswalder Kriegsteilnehmern wurde ein Tiefstand von nur einem Aktiven verzeichnet. Nach dem Krieg konnte die Verbindung ohne Kriegsverluste im S.-S. 1883 mit 27 und im W.-S. 1883/1884 mit 30 Aktiven und 7 Inaktiven aufwarten.
Der Höhepunkt des Wachstums war im S.-S. 1884 erreicht in dem die Verbindung mit 41 Aktivem, 5 Inaktiven und 21 Füxen eine Gesamtzahl von 67 Mitgliedern hatte. Entsprechend war in der Studentenschaft der Unmut hoch und der Ausdruck „Wuchert hier der Wingolf“ machte die Runde.
Die große Anzahl von Mitgliedern machte es in dieser Zeit für die Aktiven unzumutbar Konvente oder Stiftungsfeste in den beengten örtlichen Gaststätten zu feiern. Entsprechend wurde der Wunsch nach einem eigenen Haus geäußert und auch ab dem S.-S. 1887 mit der Sammlung für den Hausbau begonnen. Im S.-S. 1888 wurde das Grundstück für 5650 Mark gekauft, am 2. August 1888 wurde der Grundstein für das Wingolfshaus gelegt und am 10. Mai 1889 wurde das Haus als erstes Wingolfshaus feierlich eingeweiht.
In der Geschichte der Wingolfsverbindungen von 1914 wird das Greifswalder Haus wie folgt beschrieben:
Zunächst stehe hier eine äußere Beschreibung des Hauses. Es hat eine ruhige, vornehme Lage in der Karlsstraße. Der Bau aus weißen Sand und hellroten Backsteinen ist vornehm und schlicht; auf der hinteren Seite schließt sich ein Garten mit schönen Sitzplätzen, Spielplatz und schmucken Beeten an. Ein freier Ausblick im hinteren Teil des Gartens läßt das Auge frei über Felder und Wiesen schweifen. Betritt man das Haus selbst, so grüßt in der Eingangshalle die „Keilinschrift“: „O selig, o selig ein Fuchs noch zu sein!“ Von hier aus kommt man in den geräumigen Flur, der in Garderobe, Lese-, Spiel- und für den Gd. W. so charakteristische A. H. C. Zimmer führt. Dahinter liegt ein breiter, gemütlicher Raum, das „kühle Sälchen“, mannigfach geschmückt mit Wappen und Bildern, besonders auch mit einer prachtvollen Bronzebüste Kaiser Wilhelms II. Große Fenster und Glastüren an der Außenwand, welche neben dem Oberlicht für das nötige Licht sorgen, gewähren einen Ausblick auf die Veranda und den Garten. In dem ersten Stock befinden sich außer der Wohnung des Hauswirts freundliche Stuben für drei Verbindungsbrüder, während der Boden besonders zum Pauken benutzt wird.
Nach dem Bau des Hauses zählte der Greifswalder Wingolf im S.-S. 1896 100 Aktive. Diese Zahl konnte aber durch die inneren und äußeren Einflüsse nicht gehalten werden, so dass die Zahl der Aktiven bis 1914 nur noch zwischen 10 und 25 pro Semester schwankte.
Mit Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 war der Greifswalder Wingolf im W.-S. 1914 ohne Aktive. Mit 391 Kriegsteilnehmern und insgesamt 55 gefallenen wurde der Greifswalder Wingolf durch den 1. Weltkrieg stark geschwächt. Zwischen 1914 und 1918 waren nur 15 Aktivmeldungen zu vermelden, was maximal 5 aktive Burschen vor Ort entsprach.
Das Wingolfshaus stand während des Weltkriegs der Aktivitas nicht zur Verfügung, da es als Lazarett genutzt wurde und erst Ende 1919 wieder bezogen werden konnte.
Nach dem 1. Weltkrieg erholte sich der Greifswalder Wingolf schnell, so dass 1919 wieder 37 Aktive zu verzeichnen waren. Mit der Weltwirtschaftskrise 1923 kam das Verbindungsleben erneut fast zum Erliegen. Zu der Zeit nach dem ersten Weltkrieg wird im Greifswalder Erinnerungsbuch folgendes geschrieben:
Trotz allen Schwierigkeiten gelang der Aufbau eines regelrechten Verbindungslebens. Alle waren Kriegsteilnehmer, die sich wieder an ein geregeltes Leben und die Facharbeit gewöhnen mußten. Manches Unzeitgemäße verschwand. Die meisten Studenten hatten nur geringe Mittel die Preise stiegen täglich, während der Wert des Geldes sank. Die Berufsaussichten verschlechterten sich infolge des starken Andranges zu den Hochschulen. An Lebensmitteln, Büchern, Buden usw. fehlte es. Äußerst bescheiden und einfach lebten diese Wingolfer. Alte Mützen und Bänder wurden wieder hervorgeholt. Und war der Anzug noch so schlicht, der ganze Kerl mußte in seinem strammen Auftreten beweisen, daß er Farbenstudent war.
...
So fiel im Sommer 1922 unser gemeinsamer Mittagstisch eine Zeitlang aus, bis man dazu überging, das Essen aus der Mensa zu holen und gemeinsam im Kneipsaale zu verzehren, so daß die meisten wieder erschienen. Dank Gaben an Geld und Lebensmitteln von Philistern und Wingolfsfreunden konnte man das Essen durch Zukost reichlicher gestalten und zum gleichen Preise wie in der Mensa abgeben. Gegessen wurde im Winter 1922 im Billardzimmer, das alle zwei Tage geheizt wurde. Im W.-S. 1923 wurde das Essen auf dem Hause wieder eingestellt, dafür nahm man die Mahlzeiten gemeinsam in der Mensa ein. Die Lebensmittel, die Philister und Freunde der Verbindung zur Verfügung stellten, schleppte man selbst herbei und verteilte sie unter die Verbindungsbrüder. … Ohne die Hilfe der Philisterschaft wäre man nie über wirtschaftliche Nöte hinwegkommen.
…
Im Winter 1923 fanden sich allmählich einschließlich drei Krassen nur zehn Aktive ein. Ein dumpfer Druck lag über allem. Hatte man im Sommer nach Tausenden gerechnet (das Mittagessen beim Stiftungsfest kostete 5000 Mark), so ging es jetzt nach Milliarden, zuletzt gar nach Billionen. Drei Wingolfer mußten sofort aus Geldgründen heimreisen und anderweitige Arbeit suchen. Ein Aktiver erschien erst nach Wochen, nachdem ein Greifswalder Professor das Reisegeld für ihn aufgebracht hatte. Als sich nach der Einführung der wertbeständigen Rentenmark die Verhältnisse besserten, versuchte man, nach Neujahr wieder einen bescheidenen Verbindungsbetrieb aufzuziehen.
Nach 1923 konnte der Greifswalder Wingolf nicht mehr zu seiner alten Stärke und Form zurückfinden. Die inneren und äußeren politischen Strömungen führten zu einer Stagnation und letztendlich zur Auflösung am 6. Dezember 1935. Zu diesem Zeitpunkt zählte der Greifswalder Wingolf 1164 lebende Mitglieder.
Im Greifswalder Erinnerungsbuch wird diese Zeit wie folgt beschrieben:
„Welch eigenartiges Bild bot unsere Verbindungsgeschichte von 1913 bis 1932! Schönen Friedenssemestern einer sorglosen Studentengeneration folgten die Kriegsjahre und die harte Inflation, dann normalere Zeiten, allerdings unter ganz veränderten Lebensbedingungen, zuletzt der Kampf um die Korporation gegen äußere radikale Strömungen. Der Student des Sommers 1932 sah sich vollkommen anderen Verhältnissen gegenüber als der vor 20 Jahren.“
Mit der Auflösung der Verbindung zog der Kassenwart und Ortsphilister Gensichen mit seiner Familie in das Verbindungshaus und nahm dort Umbauten und Renovierungen vor. Der Kneipsaal und die Gemeinschaftsräume standen den verbleibenden Verbindungsbrüdern zeitweise noch zur Verfügung.
Das Verbindungshaus wurde am 1. September 1938 an Philister Gensichen für 20.000 RM verkauft. Von diesen 20.000 RM wurden 3.000 RM für die bereits erfolgten Umbauten abgezogen. Von den verbleibenden 17.000 RM wurden durch Philister Gensichen 4.300 RM bezahlt. Die verbleibende Summe sollte in 30 vierteljährlichen Raten von 383,33 RM (bis 1948) an verschiedene Institutionen gezahlt werden.
Mit der Kapitulation Greifswalds am 30. April 1945 verliert sich die Spur der Familie Gensichen. Nach Überlieferung einiger Philister soll Philister Gensichen während der Besatzung Greifswalds durch die rote Armee am 2.8.1945 zu Tode gekommen sein.
Das Verbindungshaus wurde nach der Kapitulation von der Roten Armee bis Ende 1955 als Küche benutzt. Nach 1955 nahm die Universität das Haus in Besitz und betrieb das Sportinstitut in ihm. Entsprechend wurden die Grundstücke in der Karlstrasse zu einem Sportplatz umgestaltet.
Nach der Wende wurde am 21. Juli 1993 das Haus an das Land Mecklenburg Vorpommern verkauft und bis 2010 als Sportinstitut weitergenutzt. 2011 wurde das mittlerweile baufällige Haus von dem Land Mecklenburg Vorpommern zum Einheitspreis von 300.000 Euro zum Kauf angeboten. Nachdem das Haus von 2010 bis 2015 leer stand wurde es im März 2015 nach fast 130 Jahren abgerissen.
Der 2. Weltkrieg kostete 62 Kriegsteilnehmern das Leben. Nach dem Ende des Krieges und der Teilung Deutschlands war eine Wiedergründung des Greifswalder Wingolfs in weite Ferne gerückt. Im Jahr 1960 übernahm der Clausthaler Wingolf zu Marburg die Patenschaft des Greifswalder Wingolf und versucht seit 1990 den Greifswalder Wingolf wieder zu gründen.
Wichtige Daten des Greifswalder Wingolfs
1867 10. Juni: Bildung des Wingolfsvereins
1867 10. Juli: Gründung des Greifswalder Wingolf als Verbindung
1867 17. Juli: Stiftungsfeier und Anlegen der Bänder
1868 27. Januar: Aufnahme in den Wingolfsbund
1888 2. August: Grundsteinlegung zum Wingolfshaus
1889 10. Mai: Hausweihe
1935 6. Dezember: Auflösung der Verbindung
1960 10. Juli: Patenschaft mit dem Clausthaler Wingolf zu Marburg
Das Greifswalder Haus
ca. 1880
1936
Hausrundgang 1936 - 2011
Von der Straße
Eingang mit Flur
Billardzimmer
Chargenzimmer
Kneipsaal
Treppenaufgang
Aktivenzimmer
Veranda
Wingolfsstein